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Ernährungssysteme

Wien, 30.08.2019

Mit diesem zweiteiligen Beitrag möchten wir einerseits eine Betrachtungsweise vorstellen, die uns als Ernährungsrat hilfreich erscheint, Ernährungssysteme ganzheitlich zu begreifen und deren Komplexität und Vielfalt besser zu verstehen. Andererseits wollen wir der Frage nachgehen, wie Akteure auf allen Ebenen und aus verschiedenen Bereichen dazu beitragen können, das städtische Ernährungssystem fairer, nachhaltiger und gesünder zu gestalten.

In weiterer Folge und in zukünftigen Beiträgen wollen wir ergänzende und verschiedene Sichtweisen auf das Ernährungssystem präsentieren, um so eine vielschichtige, differenzierte Diskussion des Ernährungssystems anzustoßen und der Dynamik des Themas Rechnung zu tragen.

TEIL 1:
STADT, ESSEN, NACHHALTIGKEIT:
WIE DER ERNÄHRUNGSRAT AUF DAS ERNÄHRUNGSSYSTEM SCHAUT UND WARUM ES EINE STÄDTISCHE ERNÄHRUNGSSTRATEGIE BRAUCHT

In den letzten Monaten und Jahren erfährt das Thema ‘Nachhaltigkeit’ unter vielen Aspekten wie Klimaschutz und gesunder Ernährung ein steigendes Maß an Aufmerksamkeit. Die Vielzahl an Ereignissen – Konferenzen und Summits, Proteste & Skandale, Ankündigungen aus der Politik und Versprechungen der Wirtschaft, vielstimmige Medienberichterstattung usw. – machen es nicht gerade einfach, einen guten Überblick über alle aktuellen Initiativen zu bekommen – selbst wenn man sich auf einen Bereich wie Ernährung beschränkt. Noch schwieriger ist es aber, deren Reichweite und mögliche sowie tatsächliche Wirksamkeit zu begreifen, geschweige denn die diversen Verknüpfungen und Abhängigkeiten zu durchschauen.

Vernünftig erscheint es daher,  diese Vielzahl an (Nachhaltigkeits-)Initiativen und -programmen sowie die dahinterstehenden Akteure sinnvoll einzuordnen. So eine schlüssige Einordnung kann es dem/der Einzelnen ermöglichen,  nicht nur einen besseren Überblick zu bekommen, sondern auch Zusammenhänge und Abhängigkeiten unterschiedlicher Bereiche des Ernährungssystems zu verstehen.

Mit der Einordnung möchten wir als Ernährungsrat die verschiedenen Ebenen des Ernährungssystems, die es unserer Ansicht nach zu berücksichtigen gilt, kategorisieren und vorstellen. Bevor wir uns aber mit der eigentlichen Kategorisierung beschäftigen, erscheinen ein paar einleitende Betrachtungen hilfreich.

Überblick über wichtiger Nachhaltigkeitsinitiativen mit Fokus auf Ernährung

Lebensmittel und Ernährungspraktiken (Produktion, Verarbeitung, Konsum, Wiederverwertung oder Entsorgung) sind unmittelbar mit Fragen der Nachhaltigkeit verknüpft. Wenn wir uns die von der UNO ausgegebenen 17 Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) vor Augen führen, wird sofort klar, dass ein guter Teil dieser Ziele sowie der Grad der Zielerreichung direkt oder indirekt mit Ernährungssystemen zu tun hat.

Die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen

Das Resilience Center der Universität Stockholm geht sogar so weit, alle Ziele mit Ernährungssystemen in Verbindung zu bringen und schlägt somit eine neue Betrachtungsweise der ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekte der SDGs vor.

Alternative Darstellung der SDGs von Johan Rockström und Pavan Sukhdev, Stockholm Resilience Center

Ein Bericht in der angesehenen Publikation The Lancet in Zusammenarbeit mit dem EAT-Forum1 unterstreicht den Ernst und die Dringlichkeit des Themas folgendermaßen:

Die Auswirkungen unseres Ernährungssystems bedrohen sowohl die Gesundheit der Menschen als auch die unseres Ökosystems - und somit die gesamte Zivilisation. Die moderne westliche Ernährung hat sich zu einem extrem schädlichen Phänomen entwickelt. Es braucht daher ein radikales Umdenken, um eine ökologische Katastrophe abzuwenden.

Felicity Lawrence bringt es im Guardian noch mehr auf den Punkt: “Was und wie wir essen tötet uns – und unsere Erde“ (original: “The way we eat is killing us – and our planet”):

Individuelle Initiativen und Lösungen sind nicht ausreichend, um den Trend zu revidieren oder die Risiken zu verringern. Genauso wenig werden zwischenstaatliche oder internationale Abkommen allein dafür ausreichen. Was es bräuchte ist vielmehr, dass alle Akteure auf allen Ebenen der Ernährungssysteme über ihre Rolle und ihren Beitrag kritisch nachdenken, gemeinsam Strategien entwickeln und an deren Umsetzung arbeiten.

Selbst das oft und zu Recht kritisierte World Economic Forum (WEF) spricht sich für eine vollkommene Neuausrichtung des globalen Ernährungssystems aus und betont, dass nur eine systemische, ganzheitliche Betrachtung des Themas Erfolg versprechen kann. Stakeholder aus allen Bereichen sollten, so das WEF, einbezogen werden und Regierungen sowie Unternehmen müssen in die Pflicht genommen werden und sich ihrer Verantwortung stellen.

Einordnung des Ernährungssystems

Für den Versuch einer Einordnung und Kategorisierung wollen wir folgende Definition von Ernährungssystemen verwenden:

Das Ernährungssystem umfasst alle Personen, Unternehmen und Organisationen, die an der Produktion, Verarbeitung, Konsum und Entsorgung von Lebensmittel direkt oder indirekt beteiligt sind. Die Tätigkeiten dieser Akteurinnen und Akteure gehören ebenso dazu wie Material-, Energie- und Informationsflüsse zwischen diesen. Darüber hinaus sind die natürliche Umwelt sowie soziale und kulturelle Normen, rechtliche Vorgaben, wirtschaftliche Gegebenheiten und politische Prozesse wesentliche Bestandteile des Ernährungssystems.2

Wir möchten Ernährungssysteme nicht nur anhand ihrer verschiedenen Dimensionen und Maßstäbe, ihrer unterschiedlichen Orientierungen und Schwerpunkten betrachten, sondern auch unserem Eindruck nach interessante aktuelle Beispiele liefern, die die Notwendigkeit auf allen Ebenen zu handeln, unterstreichen.

Eine systemische Perspektive ermöglicht es, eine Vielzahl von Akteuren, mit oftmals diversen, manchmal widersprüchlichen Bedürfnissen, Motiven, Budgets und Themenschwerpunkten zu verknüpfen. Was diese Akteure jedenfalls gemeinsam haben, ist, dass sie alle zu den oben angeführten  Praktiken, Handlungen und Ausprägungen innerhalb des Ernährungssystems beitragen bzw. diese gestalten.

Von der Haushaltsebene (mikro) ausgehend bis hin zur globalen Ebene (makro), erscheint eine grobe Einteilung in 6 Ebenen des Ernährungssystes sinnvoll, wie sie in der Abbildung dargestellt ist.

In diesem ersten Teil werden wir uns den unteren 3 Ebenen widmen.
Auf der globalen Ebene beginnend, sind es vor allem die bereits erwähnten 17 nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) mit 169 Unterzielen, deren Einhaltung bzw. Erreichung sich die internationale Staatengemeinschaft selbst verordnet hat. Angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage kann man sich gut vorstellen, wie schwierig sich die Überprüfung und insbesondere Durchsetzung dieser Ziele auf nationaler3 (auch in Österreich) und internationaler Ebene gestaltet.

Vermehrt beobachten lässt sich jedenfalls, dass global agierende und transnationale Unternehmen, insbesondere industrielle Lebensmittelproduzenten, die SDGs immer öfter als Referenzpunkt in ihren Nachhaltigkeits-Berichterstattungen heranziehen. Ob solche Entwicklungen ein ernsthaftes Bekenntnis zur Nachhaltigkeit oder doch eher eine PR bzw. CSR Strategie darstellen, unterscheidet sich wohl je nach Perspektive des Betrachters.

Globale Unternehmen werden ihr Verhalten jedenfalls dann ändern, sobald sie durch das geänderte Kaufverhalten ihrer KundInnen oder durch regulatorische Rahmenbedingungen auf nationalstaatlicher Ebene dazu gezwungen werden.

Nationale Regierungen verfügen hier über deutlich mehr Handlungsspielraum als supranationale Organisationen (wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen), wirksame Regelungen hinsichtlich Lebensmittel- & Ernährungssysteme zu gestalten und anzuwenden. Beispielsweise Nahrungsmittelabfälle (einerseits Verpackungen in der Produktion, im Groß- und Einzelhandel, in der Gastronomie; Lebensmittel, die nicht den Standards des Handels, der KonsumentInnen oder GastronomInnen entsprechen andererseits) sind so ins Zentrum der Aufmerksamkeit vieler Staaten gerückt. Frankreich ist hier einer der Vorreiter und hat dem Lebensmittelabfall den Krieg erklärt: So sind Supermärkte verpflichtet, unverkaufte Lebensmittel nicht wegzuwerfen, und Restaurants dazu, ihren Gästen auf Wunsch ‘doggy bags’ bereitzustellen. Durch konkrete gesetzliche Maßnahmen hat Frankreich es geschafft, den landesweiten Lebensmittelabfall auf 1,8% der Gesamtproduktion zu senken und strebt eine Reduktion um weitere 50% bis 2025 an.

Im von der „Economist Intelligence Unit“4 und dem Barilla Center für Ernährung5 entwickelten Food Sustainability Index werden Länder nach drei Kriterien bewertet: Lebensmittelverschwendung, nachhaltige Agrarpraktiken, ernährungstechnische Herausforderungen. Während Frankreich an der Spitze rangiert und die Golfstaaten, trotz ihres Reichtums das Schlusslicht bilden, findet sich Österreich zwar an der relativ guten neunten Stelle in der Gesamtwertung aber im abgeschlagenen Feld, wenn es um Lebensmittelverschwendung bzw. -abfall geht.6

Trotz des beschriebenen möglichen Handlungsspielraums auf nationaler Ebene, erscheinen uns Städte oder urbane Regionen (auch Kleinstädte, Gemeinden oder Dörfer) als jene Kategorie, in der –  aufgrund ihres besonderen Potenzials – die aufregendsten, innovativsten und vielversprechendsten Entwicklungen in Hinblick auf nachhaltige Ernährungssysteme passieren. Das scheint mehrere Gründe zu haben:

  • Städte sind der Angelpunkt vieler sozialer Aktivitäten: Bildung, kulturelle Produktion, Freizeit & Tourismus, Business etc.
  • Bürgermeister*innen und Stadtregierungen sind oft progressiver und innovativer als Regierungen auf Bundes- oder Landesebene.
  • Städte verfügen meist über eine Vielfalt (auch ethnisch) diverser Communities mit ihren eigenen Lebensstilen, Traditionen, Erfahrungen, Wissen und Netzwerken,...
  • Städte wachsen. Daher ist die Versorgung mit gesundem, leistbarem Essen ein zentrales Anliegen städtischer Bevölkerungen und von (manchen) Stadtregierungen. Themen wie Resilienz, Sicherheit und Souveränität von Ernährungssystemen bekommen daher zusätzliche Bedeutung und Dringlichkeit.

Den Entwicklungen der De-Lokalisierung von Lebensmittelproduktion und –konsum muss somit mit einem Wandel urbaner Ernährungssysteme entgegengewirkt werden. Städte rund um den Globus haben diese Herausforderungen erkannt und entdecken auch die sich eröffnenden Gestaltungsmöglichkeiten, die einige dann in innovative urbane Ernährungsstrategien („Urban Food Strategies“) übersetzen.

Städtische Ernährungsstrategien

Solche Strategien gehen weit über die Forderung nach einzelnen Bauernmärkten hier und da, Festivals oder Ansätze der städtischen Landwirtschaft hinaus. Sie setzen ganzheitlich an und beschäftigen sich auch eingehend mit scheinbar weniger „angesagten“ Themen wie öffentlicher Gesundheit, Bildung, Zugang zu Ernährungsressourcen, Lebensmittelverschwendung und Abfallvermeidung usw.

Es sind nicht nur westliche Metropolen und Hauptstädte die Vorreiter solcher Entwicklungen: Zwar hat London’s Bürgermeister Sadiq Khan eine ehrgeizige, inklusive Ernährungsstrategie für London initiiert, und es zeigen sich auch die skandinavischen Länder mit ihrem Nordic Solutions Menu ambitioniert. Es finden sich auch viele südamerikanische, afrikanische und asiatische Städte unter Initiatoren und Unterzeichnern des  Milan Urban Food Policy Pact, eine Initiative zu der sie viele der interessantesten und innovativsten Projekte und Best Practices beisteuern.

Beispiele für städtische Ernährungsstrategien

Hier agiert auch der Wiener Ernährungsrat, der sich dafür einsetzt, für die Stadt Wien und Umland eine solche Strategie unter Einbeziehung aller relevanten AkteurInnen zu erstellen (hierzu wird an späterer Stelle noch gesondert berichtet).

Im zweitenTeil unseres Beitrags werden wir uns in der Akteurspyramide weiter nach oben vorarbeiten und die Mikro-Eebene, d.h. Communities, Unternehmen und Organisationen sowie Haushalte, betrachten und mit Beispielen illustrieren. Eine abschliessende Zusammenführung aller Ebenen soll nochmal verstärkt die Verbindungen deutlich machen.

 

Ihr wollt etwas ergänzen, kommentieren oder vertretet einen anderen Standpunkt? Schreibt uns an takt

 

Quellen:

[1] EAT ist eine Kommission aus 37 unabhängigen WisschaftlierInnen, die sich zum Ziel gesetzt haben, das globale Lebensmittelsystem zu transformieren. Mehr dazu hier; https://eatforum.org/about/who-we-are/

[2] Angelehnt an: Moschitz, H., Landert, J., Hecht, J., Schader, C. 2015: Das Ernährungssystem Basel – Relevante Politiken, Institutionen und Akteure. Frick: FiBL Schweiz. und Stierand, P. 2008: Stadt und Lebensmittel – Die Bedeutung des städtischen Ernährungssystems für die Stadtentwicklung. Dissertation. Dortmund.
Siehe auch: https://ernaehrungsrat-wien.at/vision-mission/

[3] https://www.falter.at/archiv/FALTER_20190424569A9B29C1/wie-bringen-die-un-osterreich-dazu-die-nachhaltigkeitsziele-zu-erreichen-und-wer-hilft-dabei

[4] Die Economist Intelligence Unit (EIU) ist ein Unternehmen, dessen Arbeit eng mit der Wochenzeitung The Economist verbunden ist. Die Haupttätigkeiten der EIU sind Bereitstellung von Prognose- und Beratungsdiensten durch Forschung und Analyse.

[5] Das Barilla Center for Food & Nutrition Foundation (https://www.barillacfn.com/en/) ist laut eigenen Angaben ein unabhängiger Think Tank für Nachhaltigkeit in Bezug auf Ernährungsthemen

[6] Die Tabellen und Heat Maps finden sich hier.

Weitere Quellen:

Eine englischsprachige Zusammenfassung des EAT Lancet Reports findet sich hier: https://eatforum.org/content/uploads/2019/07/EAT-Lancet_Commission_Summary_Report.pdf

Lawrence, Felicity: The way we eat is killing us – and the planet. The Guardian, January 2019. https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/jan/28/global-food-killing-humans-planet-climate-change-obesity

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