Regional ist nicht genug: Ökologische, gesunde und sozial gerechte Versorgung mit Lebensmitteln braucht System
– Kommentar des Ernährungsrat Wien zum Regionalitätsgipfel –
Wien, 20.05.2020
Am 12. Mai 2020 fand im Bundeskanzleramt ein Regionalitätsgipfel statt, zu dem Bundeskanzler Sebastian Kurz und Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger eingeladen hatten. Zahlreiche Stakeholder aus Politik, Landwirtschaft und Wirtschaft sowie VertreterInnen des Lebensmittelhandels waren zugegen. Ziel sei es, durch einen „Schulterschluss zwischen Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung, Handel und Gastronomie“ den Konsum regionaler (gemeint ist hier: österreichischer) Produkte deutlich zu fördern. Dabei will die Bundesregierung mit positivem Beispiel vorangehen und „einen möglichst hohen Anteil an regionalen und saisonalen Lebensmitteln in der öffentlichen Beschaffung einsetzen“ (aiz, 12.05.2020).
Die Forderung der Bundesregierung nach mehr regionalen Lebensmitteln ist durchaus positiv zu sehen. Allerdings erfasst sie das österreichische Ernährungssystem dabei nicht in seiner Ganzheit. Das lässt aus Sicht des Ernährungsrat Wien viele Potenziale ungenutzt:
Allein vom Wissen über die Distanz zwischen dem Ort der Produktion und des Konsums kann weder auf die Qualität eines Nahrungsmittels, noch auf (wirtschaftliche) Vorteile für eine Region geschlossen werden. Eine bestimmte Herkunft wird erst dann zu einem spezifischen Güte-Kriterium, wenn Herkunftsangaben an konkrete Herstellungs- oder Handelskriterien geknüpft werden – etwa im Zuge von Kennzeichnungssystemen. Dementsprechend sind Wertungen durch reine Herkunftsangaben, wie sie uns in der alltäglichen Vermarktungskommunikation häufig begegnen, also mit Vorsicht zu genießen.
Wenn das Ziel der österreichischen Politik darin besteht, der Regionalität, also der reinen Lokalisierbarkeit selbst, einen Wert zuzuschreiben – ohne das Wie der Produktion mit einzubeziehen – werden dabei wesentliche Aspekte einer fundierten Entscheidungsgrundlage beim Kauf eines Produkts übersehen. Themen wie Herkunft und Regionalität werden aus Sicht der Konsumierenden zwar zunehmend honoriert, sind aber aus Perspektive des Handels vor allem aus ökonomischen Gesichtspunkten interessant.
Eine Politik, die Klimaschutz, Gesundheit und soziale Gerechtigkeit berücksichtigt, muss demnach auch mit entsprechenden Kriterien arbeiten. Jetzt wäre die Gelegenheit, auf Ebene des Ernährungssystems ein klares Bekenntnis zu systemischem Denken und Ökologie mit Gerechtigkeit als entscheidenden Faktor umzusetzen. Das Ernährungssystem als Ganzes muss so gestaltet werden, dass es uns nicht nur ernährt, sondern uns darüber hinaus gesund hält und einen aktiven Beitrag für den Schutz unserer Umwelt leistet. Daher müssen Kriterien für ökologische und soziale Standards entlang der Wertschöpfungskette ein mindestens gleichwertiges Gewicht neben der Regionalität erhalten.
Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen und ExpertInnen aus den Bereichen Ökologie und Ernährungssouveränität erheben seit vielen Jahren den Ruf nach derartigem systemischen Denken und Handeln – wie zuletzt beim Web-Kongress “Visions for Transition”, der beinahe zeitgleich zum Regionalitätsgipfel stattfand. Deren Vorschläge und Maßnahmen sollten nun in die eindimensionale Diskussion über Regionalität unbedingt einfließen. Erst durch die Erweiterung um soziale und ökologische Kriterien und ein Verständnis von Regionalität jenseits nationaler Begrenzungen, kann die Chance auf eine grundlegendere Wende in unserem Ernährungssystem genutzt werden.
Koordinationskreis, Ernährungsrat Wien